Christin
Zur Navigation springen
Zur Suche springen
Christin
Verfasser: Fexon
Christin, Ich weiß nicht, ob dies das letzte sein wird, was du von mir lesen wirst, und ich weiß nicht, ob, wenn du diesen letzten Brief in den Händen hältst, schon mehr bekannt ist, als jetzt – ich weiß nur, dass etwas Unerklärliches hier vorgeht, und die ganze Stadt seit vier ganzen Tagen unter Quarantäne steht. Quarantäne! Soldaten stehen an provisorischen Schranken und überall stinkt es furchtbar. Sie sagen es sei eine neue, antigenetische Grippe-Variante. Niemand hier versteht, was das bedeutet. Die Schrauben- und Mutternfabrik, die den meisten hier Arbeit gegeben hat, bevor die Grippe ausgebrochen ist, ist heute Morgen geschlossen worden – wegen Arbeitermangel… Aber wenn das hier solche Ausmaße annimmt, wie es sich derzeit abzeichnet – wofür braucht man dann Schrauben?! Seite 1/3
Ich wünschte, du wärst nie gefahren. Ich wünschte, du wärst hier gewesen, als Porky gestorben ist. Er war so gesund, bis zu der Nacht - noch bevor uns die erste Meldung über das Virus erreichte - als er plötzlich stark aus der Nase zu bluten begann. Es dauerte vielleicht fünf quälende Minuten. Er sah mich nur an. Gott, vorgestern war ich an der Stelle im Wald, wo ich ihn vergraben hatte, irgendetwas hatte das Loch wieder aufgerissen. Kranke Stadt. Man solle das Haus nicht verlassen. Also verlasse ich das Haus kaum. Die Enge der Wände, der Geruch des eigenen Atems, die Stille, die, mit muffigen Vorhängen zugezogenen Fenster und die unzumutbare Ungewissheit hinterlassen Spuren. Und Porkys leeres Körbchen. Gott, ich will nicht mit blutender Nase sterben. Ich werde die Türe niemandem öffnen. Es sollen Plünderer umgehen, sagen die Leute. Seite 2/3
Ich war nie ein gläubiger Mensch. Doch das, was gerade passiert, ist die Strafe für alles, was hier in der Vergangenheit geschehen ist. Eine Krankheit für eine kranke Stadt. Für eine kranke Welt. Vielleicht sollte ich sehen, ob ich im Haus von Frau Watzek, der alten Dame von nebenan, eine Bibel finde. Die Haustür steht seit vier Tagen offen, auch wenn ich meine, sie gestern regungslos am Fenster stehen gesehen zu haben. Ob alles in Ordnung ist? Ich denke an Dich. Seite 3/3
zurück zur Hauptseite